„Europa der Verteidigung und der Rüstung“

FIfF-Brief zur Diskussion um den Ukraine-Krieg und langfristige Friedensperspektiven überall auf der Welt.

Foto der zwei Vorsitzenden des FIfF, Stefan Hügel und Rainer Rehak.

Dieser Text erschien in der FIfF-Kommunikation 01/2023 zur Diskussion um den Ukraine-Krieg, Friedensverhandlungen, Waffenlieferungen und langfristige Friedensperspektiven überall auf der Welt. Lizenz: CC BY

Liebe Freundinnen und Freunde, liebe Mitglieder des FIfF,

in diesen Tagen jährt sich der russische Überfall auf die Ukraine und der Beginn des dadurch ausgelösten Krieges zum ersten Mal – und es ist kein Ende abzusehen. Man kann es wohl nicht genug betonen: Es besteht kein Zweifel über den Aggressor, und dass die Ukraine unserer Unterstützung und Solidarität bedarf. Dieser Krieg muss so schnell wie möglich enden, und der Schlüssel dafür liegt in erster Linie bei der Russischen Föderation und Präsident Putin.

Doch wie kann es weitergehen, wenn die Aggression anhält? Wie sieht sinnvolle Solidarität aus? Darüber ist in den deutschen Leit- und sozialen Medien ein heftiger Streit entbrannt. Verhandlungen oder Waffenlieferungen – das scheinen grob vereinfacht die einzigen Handlungsoptionen zu sein. Auch wenn Deutschland nicht direkt an dem Konflikt beteiligt ist, wird diese Debatte mit harten Bandagen geführt: „Kriegstreiber!“[1], so rufen die Einen, „Friedensschwurbler!“[2] erwidern die Anderen[3].

Wir glauben, dass sich alle am Diskurs beteiligten (relevanten) Akteure ein Ende dieses Krieges wünschen und dass niemand ein Interesse daran hat, dass Aggression belohnt wird. Worum geht es also? Bringt es uns weiter, wenn wir Vertreter:innen einer anderen Meinung stets die finstersten Motive unterstellen?

Letztlich geht es doch eher um die Frage nach dem „Wie?“: Wie kann das Sterben beendet und gleichzeitig dafür gesorgt werden, dass die Ukraine nicht unter diktatorische Fremdherrschaft gerät? Was müssen wir vom Einen preisgeben, um das Andere zu erreichen? Letztlich: Dürfen „wir“ über das Schicksal der Ukra­ine entscheiden? Haben „wir“ – als Waffenlieferanten – eine Mitverantwortung für den Fortgang dieses Krieges?[4] Wer entscheidet letztlich überhaupt, wer eigentlich ist „die Ukraine“? Präsident Selenskij oder die ukrainische Bevölkerung, die unter den Folgen dieses Krieges leidet? Oder kommt das auf dasselbe heraus? Letztlich werden Kriege immer durch Eliten geführt und durch die Bevölkerung verloren.

Heftig debattiert wird gerade über das Manifest für den Frieden[5], das durch die Politikerinnen und Publizistinnen Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht initiiert wurde. Bei change.org wurde dieses Manifest von inzwischen über 700.000 Menschen unterzeichnet.[6] Wenn so viele Menschen eine Idee mittragen, ist ein näherer Blick nötig.

Zusammengefasst bezweifeln die Initiatorinnen, dass ein militärischer Sieg der Ukraine möglich ist, und fordern zu Verhandlungen auf – auch um den Preis für die Ukraine nachteiliger Kompromisse. Sie lassen aber auch keinen Zweifel daran, wer der Verursacher des Krieges ist und was seine Folgen sind:

„Über 200.000 Soldaten und 50.000 Zivilisten wurden bisher getötet. […] Wenn die Kämpfe so weitergehen,ist die Ukraine bald ein entvölkertes, zerstörtes Land.[…] Die von Russland brutal überfallene ukrainische Bevölkerung braucht unsere Solidarität. Aber was wäre jetzt solidarisch? Wie lange noch soll auf dem Schlachtfeld Ukraine gekämpft und gestorben werden?“

Abschließend fordern sie den Bundeskanzler auf, „[…] die Eskalation der Waffenlieferungen zu stoppen.“ (Nicht die Waffenlieferungen – deren Eskalation.[7])

So weit, so konsensfähig; die Heftigkeit vieler Debattenbeiträge– teilweise mit Schaum vor dem Mund – ist dennoch bemerkenswert. Wollen wir jedoch vorankommen, müssen beide Seiten Fragen konkret beantworten: Etwa, wie sie sich eine konkrete Lösung des Konflikts vorstellen und was für sie überhaupt als „Lösung“ zählt.

  • Die Verfechter:innen von immer mehr Waffenlieferungen müssen erklären, wie ein militärischer „Sieg“ der Ukraine gegen Russland konkret aussehen würde, wann er aus militärischer und politischer Sicht überhaupt denkbar ist, ob es eine Obergrenze weiterer Waffenlieferungen gibt und wie diese festgelegt wird, welche Konsequenzen dies für die Ukraine und ihre Bevölkerung hätte und was danach mit den Waffen dort und den Waffenfabriken hier passieren soll?
  • Aber auch die Verfechter:innen von weniger Waffenlieferungen müssen Detailfragen beantworten: Wie viel Waffenlieferungen sind „weniger“ und müssten es nicht konsequenterweise dann „keine“ sein? Wie könnten Verhandlungslösungen genau aussehen? Welche Zugeständnisse müsste die Ukraine in Kauf nehmen und wie kann die Ukraine zu diesen Zugeständnissen bewegt werden? Warum sollte Putin überhaupt mit einer schwachen Ukraine verhandeln und wie friedlich wird das Leben der ukrainischen Bevölkerung in den dann russischen Gebieten aussehen?

Eines ist jedoch klar: Diese Debatten müssen auf empirisch korrekten Grundlagen geführt werden, dazu gehört die Tatsache, dass Verhandlungen bereits auf diversen diplomatischen Kanälen stattfinden (aber die Parteien sich nicht einigen können)[8],dass Atommächte historisch schon vielfach Kriege verloren haben (siehe Vietnam oder Afghanistan), dass Verhandlungen in Kriegen stets nur zwischen militärisch gleichstarken Akteuren stattfinden, dass nach UN-Charta allein die Ukraine als souveräner Staat über ihr Vorgehen entscheidet[9] oder dass nach Erkenntnissen der Vereinten Nationen[10] nur die russische Armee systematisch foltert, entführt und vergewaltigt. Allein auf solch einer Faktenbasis kann politisch diskutiert werden.

Doch über die tagespolitische Frage hinaus, wie auf den Krieg in der Ukraine reagiert werden soll, stellt sich die Frage nach der langfristigen Ausrichtung der Sicherheitspolitik. Bereits kurz nach dem Einmarsch Russlands in der Ukraine beschloss der Deutsche Bundestag unter großem Jubel[11] ein „Sondervermögen“ von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr – mit Verfassungsrang(!)[12]. Das Ziel, 2 % des BIP für Rüstung auszugeben,lange Zeit in der Diskussion, scheint inzwischen unstrittig; einige Mitglieder der NATO fordern inzwischen offenbar, es als Mindestwert zu setzen.[13]

Auf der Münchener „Sicherheitskonferenz“ im Februar 2023 erklärte Bundeskanzler Scholz:

„Gemeinsam mit Frankreich und Spanien entwickeln wir das künftige Future Combat Air System, mit Frankreich zudem das Main Ground Combat System. Auch bei der gemeinsamen Entwicklung europäischer Fähigkeiten kommen wir voran. Dafür steht die von Deutschland initiierte European Sky Shield Initiative zur Stärkung Europas Luftverteidigung im Rahmen der NATO. Das sind Schritte hin zu einem Europa der Verteidigung und Rüstung[14], wie ich es letztes Jahr an der Prager Karlsuniversität skizziert habe.“[15]

Ist das die Vision der deutschen Bundesregierung für Europa? Ist die Zeit des Friedensprojekts Europäische Union zu Ende? Bereits vorher wurde der Frieden nach innen durch eine massive Abschottung nach außen erkauft. Wollen wir eine zunehmende Militarisierung der europäischen Politik zulassen? Was können wir dafür tun, dass es nicht dazu kommt?

Der Philosoph Olaf Müller[16] weist darauf hin, dass auch alternative, pazifistische Handlungswege beschritten werden können– andere Autor:innen pflichten ihm bei.[17] Pazifismus und Antimilitarismus bedeuten nicht, auf einer Wiese zu sitzen und Gänseblümchen zu pflücken – sie sind (harte) gesellschaftliche Arbeit, die auch konsequent – und vorsorglich – angegangen (und finanziert) werden muss. Sie umfasst gesellschaftliche Fragen, technische Fragen[18] und nicht zuletzt auch wirtschaftlich-geostrategische Fragen.[19] Hat ein bewaffneter Konflikt bereits begonnen, ist es dafür freilich zu spät.

Wir müssen pazifistische Gesellschaftsentwürfe weit im Vorfeld möglicher Konflikte erarbeiten, global angehen und vorziehen, wo immer das möglich ist. Nicht nur das Militär muss finanziert werden, sondern auch der Frieden.

Mit FIfFigen Grüßen‌‌
Stefan Hügel & Rainer Rehak

Quellen